Maximilian Pollux
Geleitwort 9
        Helmut H. Koch
Vorwort
        Warum sitzen sie noch? Sich schreibend befreien. 15
        
      
        Frank Bieber-Kopf
        Metanoia - Ein Blatt Papier 27
        Christian »Bär« Templiner
        Eine Verantwortung 31
        NixeBix Heumann
        Ich war es 40
        Rero W.
        Ich habe Angst 42
        theya
        Schwingungen 74
        Mario Wolf
        Über die Suche nach Schuld und darüber,
        sein Leben zu verschleudern 76
        Für mich als Jude 78
        Stephan S.
        Was macht Schuld Was 81
        Moro
        Tinnitus der Seele 83
        Helmut Pammier
        Verboten - Sicherungsverwahrung 86
        Spurlos 88
        Wollen? 89
        Mayhem Fontaine
        Der Seelenräuber 90
        Boo
        Schritt für Schritt 98
        Senhor José
        Wie Santiago in Akten Merkwürdiges fand 100
        S.R.
        SCHULD 114
        Anonym
        Fehlerkultur. Ein Trauerspiel 116
        Roland Hörnig
        Steven 126
        Felix Broy
        Zwiesprache mit meinem Gewissen 138
        
      
        
        Aufruf 145
        Die Autorinnen 146
        Die Jury 152
        Nachrufe 154
        Die Satzung des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises für Gefangene 157
        
      
        "Mein Name ist Maximilian Pollux.
        Das war nicht immer so. In meinem alten Leben trage ich andere Namen. In
        Tschechien Christian Gerber. In Spanien Manuel Hertz. Und in den
        Niederlanden Miguel List.
        Das war alles vor meiner Verhaftung im Jahr 2005.
        Vieles veränderte sich an diesem Tag in Amsterdam, als ein
        niederländisches Arrestatieteam meine zwei Jahre andauernde Flucht
        beendet.
        Und Namen spielen für die nächsten 9 Jahre und 8 Monate eine
        untergeordnete Rolle. Aus mir wird die Nummer 16/07. Einer von
        vielen.
        Als Insasse in Deutschlands unbequemstem Hochsicherheitsgefängnis sollte
        ich meine Vergangenheit der vielen Namen vergessen. Hier in Bayern, in
        der JVA Straubing ticken die Uhren anders. Nicht nur Namen, auch Jahre
        verlieren hier an Bedeutung. Und ich füge mich in diese Maschinerie.
        Muss mich fügen, um nicht aufgerieben zu werden, und tausche meine
        vielen Namen gegen eine Nummer.
        Ich werde also der Gefangene 16/07.
        Als Gefangener, der was auf sich hält, schreibt man viel:
        Anträge, Beschwerden und Briefe.
        Viele Briefe.
        Briefe aus Liebe, Briefe aus Wut. Briefe aus Verbundenheit. Briefe aus
        der Not, aus Langweile, Briefe voller Hoffnung, Frust oder Humor.
        Die meisten Gefangenen schreiben.
        Schreiben ist ein fester Teil des Lebens in Haft.
        Eines Tages bringt mich ein Beamter zum Arzt, und wir kommen am
        schwarzen Brett vorbei. Zwischen den Aushängen, die uns Gefangene etwa
        darüber informieren, dass unsere Anträge auf ein Digitalradio abgelehnt
        wurden oder dass während der nächsten acht Wochen kein Außensport
        stattfindet, hängt ein Aushang, der meinen Blick einfängt: Die
        Ausschreibung für den "Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für
        Gefangene".
        Ich hatte in der Vergangenheit schon wiederholt gehört, dass es so etwas
        gebe, aber ich hatte meine Teilnahme bis dahin nicht in Erwägung
        gezogen.
        Warum sollte sich jemand dafür interessieren, was ich schreibe?
        Diesmal ist meine Situation jedoch eine andere, denn ich sitze seit
        einigen Wochen in Absonderungshaft. Wie alles hat diese Maßnahme, mit
        der das Personal und andere Gefangene vor mir geschützt werden sollen,
        eine Nummer: 19/3.
        Wie alle Nummern in einem Gefängnis sagt sie nichts Wesentliches aus.
        Und gleichzeitig alles.
        Drei Monate lang soll ich von meinen Mitgefangenen abgesondert werden.
        Ich darf nicht mehr mit den anderen in den Hof, und auch jetzt werde ich
        allein zum Arzt gebracht.
        Unter dem ungeduldigen Blick des Begleitbeamten bleibe ich kurz stehen
        und überfliege den Text.
        In großen Buchstaben steht dort das Thema der diesjährigen Ausschreibung
        - "Einsamkeit".
        Ich weiß nicht mehr, was dort sonst noch stand, aber im Grunde werden
        alle Gefangenen, die Lust haben mitzumachen, aufgefordert, einen Text
        zum Thema Einsamkeit einzusenden. Ob Gedicht, FIießtext oder Haiku ist
        egal.
        Erst auf dem Rückweg vom Arzt frage ich den Beamten ob ich mir kurz die
        Adresse abschreiben kann, an die man den Text schicken soll.
        Das Thema holt mich ab. Ich sitze nämlich von meinen Mitgefangenen
        abgesondert in einer Einzelzelle. Wer, wenn nicht ich, müsste da
        abliefern können. Das krieg ich hin, denk ich mir, und noch am selben
        Abend beginne ich zu schreiben.
        Ich schreibe von Hand. Eine Short Story. Nur wenige Seiten. Ohne Intro.
        Direkt aus meinem Hirn durch mein Herz über meine Finger aufs Papier. Am
        nächsten Morgen gebe ich die paar Seiten in die Post.
        Als Pseudonym wähle ich den Namen Maximilian Pollux. Es ist seit vielen
        Jahren das erste Mal, das ich mir ein Pseudonym zulege. Die Geschichte
        heißt »Der Fixstern«, und ich mag die drei X.
        Zu sagen, ich hätte mir keine Hoffnung auf den Sieg gemacht, wäre
        untertrieben. Ich habe darauf gehofft.
        Aber die Wochen vergehen. Ich verlasse die Absonderung, werde auf einen
        anderen Gang in ein anderes Haus verlegt. Ich lebe mich ein und werde
        wieder zur Nummer 16/07. Bis eines Tages überraschend ein Brief in meine
        Zelle flattert. Die Jury teilt mit, dass »Der Fixstern« zu den
        diesjährigen Preisträgern gehört!
        Und ich weiß noch, dass ich meine Freude herausgrinse. Ich trommle mir
        auf die Brust und fühle mich für einen Moment, als hätte ich einen
        Boxkampf gewonnen.
        Im Preis inbegriffen ist die Veröffentlichung der Geschichte in einer
        Anthologie, also einer Sammlung von Texten verschiedener Autoren. Und
        Leute, das war der erste von mir geschriebene Text, der jemals gedruckt
        und in einem Buch veröffentlicht wurde; und das man kaufen konnte.
        Es war die erste Bestätigung, dass das, was ich schrieb, von den Juroren
        für gut befunden wurde, dass meine Art zu erzählen verstanden wurde.
        Dass ich nicht für mich alleine schreibe. Dass ich in all den Jahren im
        Knast das Feedback erhielt, etwas gut gemacht zu haben!
        Einige Zeit zuvor hatte ich mit der Arbeit an einem Roman begonnen, und
        die Wertschätzung, die der "Fixstern" erfuhr, motivierte mich
        weiterzuschreiben. Denn wie jeden Autor hätte mich die Frage "Wer soll
        das denn lesen?" beinahe gekillt.
        Ich weiß das, und kann deshalb heute sagen, dass diese Auszeichnung und
        noch viel mehr, das gedruckte Exemplar in den Händen zu halten, der
        Grund dafür ist, warum ich immer noch schreibe: während der
        verbleibenden Haftjahre hatte ich zwei Manuskripte fertig gestellt.
        Einen Roman und ein Kinderbuch. Das war alles, was ich mitnahm, als ich
        nach neun Jahren traumatisiert, entwurzelt und ziellos entlassen
        wurde.
        Und obwohl es nicht viel war, war es am Ende genug, denn inzwischen
        wurden beide Texte als Bücher veröffentlicht.
        Heute bin ich von Beruf Autor und Podcaster, und es gibt nichts, was
        mich stolzer macht als das Angebot, die Schirmherrschaft über eben jenen
        Literaturpreis zu übernehmen, ohne den es meine Karriere so nicht
        gegeben hätte.
        Meine Frau Catherina und ich haben 2019 mit dem »SichtWaisen e.V.« einen
        Jugendhilfeträger gegründet, und wir arbeiten seither mit Jugendlichen,
        die mit einem oder bereits beiden Beinen im Knast standen, und dabei
        haben auch wir viel gelernt.
        Wenn ich Jugendliche davon abhalten will, kriminell zu sein, wirkt es
        tausend Mal präventiver, ihnen Hoffnung zu geben, indem wir sie positiv
        bestärken, anstatt sie zu bestrafen.
        Was mich überhaupt nicht zum Besseren verändert hat, waren die vielen
        Male, die ich zur Strafe und zur Abschreckung in Absonderung saß. Aber
        dieses eine Mal, als ich ein Gewinner war, als ich von außen gesehen und
        wertgeschätzt wurde, hat mein ganzes Leben zum Positiven verändert.
        Das ist es, was den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis Gefangene so
        wertvoll macht.
        Ich danke allen Beteiligten des Trägerkreises und der Jury, vor allem
        Professor Helmut Koch, der mit seiner jahrzehntelangen Arbeit so viele
        Leben berührt und bewegt hat. Ich glaube seine Leistung wird man erst in
        hundert Jahren wirklich anerkennen können, so weit ist er seiner Zeit
        voraus.
        Mein ganz besonderer Dank gilt Hubertus Becker. Meinem Mentor, meiner
        Inspiration und meinem Freund, ohne den ich heute nicht hier sitzen
        würde. Er war schon 2011 Mitglied der Jury, die meinen Text gekürt hat.
        2017 haben Helmut Koch und er mir dann dabei geholfen zum
        Rhein-Mosel-Verlag zu finden, und 2024 hatten sie die Idee, mir die
        Schirmherrschaft anzubieten.
        Außerdem danke ich den Gefangenen, die die Courage hatten, ihre Gedanken
        zu Papier zu bringen und bei der Jury einzureichen. Euer Mut, mehr zu
        sein als eine Nummer, erweckt diese wunderbare Idee zum Leben. Ich
        hoffe, dieses Buch heute in den Händen zu halten, fühlt sich für euch so
        gut an, wie damals für mich »Cemeinsam einsam«.
        Und um es mit Hubis Worten zu sagen - Wer diese Texte liest, leistet
        Widerstand.
        So gilt mein Dank an euch, die im Trägerkreis und bei der Jury
        Engagierten, an jeden einzelnen Leser und Unterstützer. Ohne Leser wären
        wir Schreiber nichts! Und jetzt, viel Spaß beim Eintauchen in den Bauch
        des Monsters."
        
      
        Die Gefangenenliteratur entwickelte sich intensiv in den 70er Jahren im
        Kontext der Erarbeitung eines Strafvollzugsgesetzes. Die Gefangenen
        sahen nun die Möglichkeit für eine Demokratisierung und Humanisierung
        des Strafvollzugs gekommen und damit auch für die Erweiterung ihrer
        eigenen Interessen und Möglichkeiten.
        
        Die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz, nach der unser Literaturpreis
        benannt ist, setzte sich ein Leben lang für die Unterprivilegierten des
        Landes, speziell auch für die Gefangenen ein. Sie ging in die
        Gefängnisse und leistete praktische Hilfe, beispielsweise indern sie
        Nahrungsmittel hineinbrachte. Sie förderte das Schreiben in Gefängnissen
        und stand auch im Briefwechsel mit Gefangenen. 1979 konstatierte sie:
        »Schreiben in Gefängnissen, davon hat man vor 10 Jahren nicht
            gesprochen.«
        In ihrem Buch »Schatten im Kalk« veröffentlichte sie über 150
        literarische Texte von Gefangenen, wie auch Prosatexte und persönliche
        Briefe. Sie erwähnt auch ihre Zusammenarbeit mit zahlreichen
        SchriftstellerInnen, unter anderem mit Johann P. Tammen, dem Herausgeber
        von »die horen« und der Gruppe »Mit Worten unterwegs« (Gründerin Astrid
        Gehlhoff-Claes). Ferner arbeitete sie im PEN-Club und im Verband
        deutscher SchriftstellerInnen, wo sie sich auch für die Anerkennung der
        Gefangenenliteratur einsetzte.
        
        Die Hoffnung der Gefangenen auf weitergehende Rechte durch die
        Erarbeitung eines neuen Strafvollzugsgesetzes wurde enttäuscht. Gerade
        deswegen war das Engagement der ver- schiedenen Schriftstellergruppen so
        wichtig, um die Stimmen der Eingesperrten und ihre Belange nach außen
        hin erfahrbar zu machen.
        »...ein Prozess auch, der öffentlich macht, was öffentlich sein
            sollte: dass die in der Haft unseres Vertrauens, nicht aber unserer
            Verachtung bedürfen; dass ihr Scheitern und unser Scheitern
            vielleicht graduell verschieden sind, weil wir entweder aus sozial
            stabileren Familien kommen oder befähigter sind, uns einzufügen,
            anzupassen, unsere Leidenschaften zu kontrollieren; weil wir uns den
            Zweifel an moralischen Kategorien nicht gegönnt haben; weil wir mehr
            Glück hatten (Glück als Chance, uns zu behaupten verstanden); und
            vielleicht auch, weil wir uns besser durchzumogeln verstanden
            haben.«
        (Schatten im Kalk, S. 9)
        
        Parallel gab es eine gleichgerichtete Initiative von Gefangenen, die
        nicht nur selbst literarisch tätig waren, sondern auch in damit
        zusammenhängenden Bereichen: der Produktion eigener Bücher,
        Gefangenenzeitungen und der Installation eines eigenen Verlages, der
        allerdings später vom Staat verboten wurde. Dieser Verlag wurde getragen
        von einer »Autorengemeinschaft« unter der Leitung von Felix Kamphausen.
        In der Anthologie »Aufbruch« heißt es:
        »Dieses Buch soll auch anderen Mut machen, nicht im zermürbenden
            Haftalltag zu resignieren, sich nicht in die stigmatisierende Rolle
            der Hilflosen drängen zu lassen, sondern aufzubrechen, zu einem
            besseren Morgen!«
        (Die Psychiatrisierung, S. 143)
        
        Im Kontext der Förderung der Gefangenenliteratur entstand Anfang der
        80er Jahre zwischen der Gefangeneninitiative Dortmund und der
        Arbeitsstelle Randgruppenkultur an der Universität Münster eine enge
        Kooperation. Beide hatten das gemeinsame Anliegen, das Schreiben im
        Gefängnis zu fördern. »Mit Worten durchbrechen« schreibt Stefan Straub.
        Es erschienen auch an der Forschungsstelle der Universität Münster eine
        Reihe wissenschaftlicher Publikationen mit dem Schwerpunkt
        Gefangenenliteratur. Auch das Strafvollzugsarchiv Bremen (jetzt
        Dortmund), unter der Leitung von Johannes Feest, unterstützte aktiv die
        Gefangenenliteratur.
        
        Um das Interesse an der Gefangenenliteratur zu stärken, beschlossen die
        Gefangeneninitiative Dortmund und die Arbeitsstelle Randgruppenkultur an
        der Universität Münster einen Preis zu etablieren: den
        »Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene«. Das Anliegen des
        Preises ist, den Gefangenen die Möglichkeit zu geben, in literarischer
        Form und authentischen Berichten die Situation in den Gefängnissen
        darzustellen und der Öffentlichkeit vor Augen zu führen. Der »Ingeborg-
        Drewitz-Literaturpreis für Gefangene« wurde zum ersten Mal 1989 vergeben
        und von da an alle drei Jahre. In diesem Jahr wird der Literaturpreis
        zum zwölften Mal verliehen unter dem Dach der Chance e. V. Münster.
        
        Den Aufrufen zur Beteiligung am »Ingeborg-Drewitz-Preis- ist immer ein
        Motto als Anregung vorangestellt, das zum Schwerpunkt die Lebensweise
        der Gefangenen sowie die rea- le Situation im Knast und unter anderem
        auch die Frage der Realisierung der Reformziele des Gefängnisses
        anspricht. In der aktuellen Ausschreibung (s. Anhang S. 145) ist als
        Motto: »Schuld- gewählt. Damit unterscheidet sich das diesjährige Motto
        von denen der vergangenen Jahre, da weniger die Kritik am Gefängnis als
        Institution, sondern das eigene Ich, die seelische Belastung, im
        Vordergrund steht. Eventuellen Befürchtungen der Gefangenen, zu sehr
        Intimes preiszugeben, sind wir insofern entgegengetreten, als wir den
        AutorInnen Ano- nymität zugesichert haben. Sehr schnell nach der
        Ausschrei- bung konnten wir feststellen, dass das Motto »Schuld« auf ein
        beachtliches Interesse stieß.
        
        Dennoch blieben einige Gefangene gegenüber dem Motto besorgt, wie die
        Notizen von Rero W. zeigen:
        »September 2023. Ich lese die Ausschreibung für den Ingeborg
            Drewitz Literatur Wettbewerb und mein Inneres verkrampft sich.
            Thema: Schuld. »Schuld ist ein unangenehmes, belastendes,
            kleinmachendes Gefühl ...« steht in der Ausschreibung. Nette
            Untertreibung. Wer bin ich, dass ich über Schuld zu schreiben das
            Recht hätte, außer meiner eigenen. Ich habe Angst. Angst vor all
            dem, Wovon ich glaubte, es hinter mir gelassen zu haben, in all den
            behandlerischen Gesprächen und der täglichen Meditation und dennoch
            ... »Du entgehst keinem Gefühl, wenn du es nicht ganz und gar
            durchlebt hast«, hatte ich irgendzoo gelesen. Nun holt mich die
            Weisheit ein. Ich finde immer wieder einen Grund nicht zu
            schreiben.« »23. Dezember 2023. Ich muss mich meinen Ängsten
            stellen. Der einzige Weg aus dem Leid ist mitten hindurch.«
        
        Eindrucksvoll sind die verschiedenen Schilderungen der Schuld in oft
        knappen Darstellungen, dennoch voller sprach- licher Intensität. Bis ins
        Innerste erschüttert über das eigene Versagen, die Verzweiflung über die
        eigene schwere Schuld, die selbst ausgeführte Gewalt gegenüber
        nahestehenden und geliebten Menschen. Einige AutorInnen scheinen
        verstrickt in tiefste Schuldgefühle und versuchen, nun schreibend eine
        ver- spätete Annäherung an eine von ihnen sehr nahestehende Person. In
        den Texten selbst ist nur zu erahnen, dass sie diesem Menschen
        möglicherweise Gewalt angetan haben.
        »Ich war es. Laut oder leise - Sprechen vor Grauen kaum möglich.
            Dabei würde ich am liebsten laut schreien. Ich war es. Ein Gefängnis
            zum Aufenthalt nicht nötig. Ich bin aufewig mein Gefängnis.«
            (NixeBix Heumann) »Meine Schuld hat mich die ganzen Jahre immer mehr
            wie in einer Spirale aufgezogen, zu einem Punkt hin, der es mir
            jeden Tag schwerer macht, in den Spiegel zu sehen.« (Christian »Bär«
            Templiner) »Aber wenn der Schmerz kommt, dann ist er nicht zu
            ertragen. Dann fühlt er sich schuldig, bestraft sich selbst,
            zerstört sein Glück und sucht seine Schuld!«
        (Mario Wo]f)
        
        Die eingereichten Texte sind erschütternd authentisch, sie geben uns
        Außenstehenden einen tiefen Einblick in die psychische Situation ihrer
        VerfasserInnen. Sie handeln von der differenzierten Wahrnehmung des
        eigenen Zustandes. Sie sind höchst emotional und eindrucksvoll in der
        Gestaltung von Sprache. Wie gehen die Gefangenen mit dem Aspekt der
        schweren seelischen Belastung der eigenen Tat um? Wie können sie unter
        den Bedingungen der Haft damit zurechtkommen? Es fällt nicht schwer, die
        Ausdrucksstärken in kurzen Beispielen anzudeuten:
        »Meine Schuld ist ein Abgrund, dunkel, tief, in der ich sie, mich
            verloren habe.« (Frank Bieber-Kopf) »Oder habe ich damals schon
            meine Schuld dafür abbezahlt, was ich aus meinem Leben gemacht habe.
            Wie ich regelmäßig meine Zukunft sinnlos hergegeben habe?« (Mario
            Wolf) »Meine Schuld ist schwer, ein Menschenleben schuier.«
        (MORO)
        
        Waren es bei den bisherigen Ausschreibungen die mächtigen Außenmauern
        des Gebäudes Gefängnis, die es, bildlich gesprochen, einzureißen galt
        (vgl. Anthologie »Vvenn Wände erzählen könnten«), so sind es nun die
        seelischen Schutzwälle eines jeden einzelnen Gefangenen, die gezeigt
        werden und die es zu öffnen gilt, zum einen als Chance, sich selbst
        besser zu akzeptieren und zum anderen auch für die Gesellschaft draußen,
        damit sie die Menschen drinnen, die Weggesperrten, verstehen lernten.
        »Icn schreie stumm gegen den Schmerz in meinem Innern, gegen die
            unendlich große Scham meiner Schuld/Taten an ... «
        (Christian »Bär« Templiner) Das Motto »Schuld« richtet den Blick auf
        einen anderen Aspekt im Leben der Gefangenen, nämlich nicht mehr primär
        gegen das Knastsystem zu agieren, sondern vielmehr ist das Motto eine
        Frage an die Gefangenen, sich selbst mit der eigenen Tat
        auseinanderzusetzen.
        »Ohnmächtig, Tod gegen Leben zu tauschen. Ohnmächtig, in die
            Unterwelt zu steigen, einen Menschen zurückzubringen. Ohnmächtig,
            mein Leben gegen ein anderes, gegen ihres zu tauschen»
        (Frank Bieber- Kopf)
        »Nichts kann die Schuld auslöschen, nichts bringt Metin je zurück,
            aber wenn ich mich veränder', ehre ich ihn damit ein Stück»
        (Boo) Auch macht das Motto »Schuld« sehr deutlich, dass noch eine andere
        schwere Bürde im Gefangenen existiert, die ihn auch zusätzlich zur
        Knastsituation belastet bis hin zur Ausweglosigkeit, zum Suizid. Dies
        wird durch den Charakter der Gefängnisse noch verstärkt!
        »Eigentlich wünsche ich mir eben seit diesem Tag, dass man sich in
            diesem Krieg, der sich Leben nennt, umbringt.«
        (Christian »Bär« Templiner)
        »Es ist, als wäre ich ein schwarzes Loch, als stünde ich im Zentrum
            eines Abgrundes, der jedem, was ihm zu nahe kommt, Tod und Verderben
            beschert.«
        (Mayhem Fontaine)
        
        Zahlreiche Textsorten wie Lyrik, Selbstdialoge, fiktive Gespräche,
        Erzählungen, fantastische Geschichten, Kritik zum Zeitgeschehen,
        Erinnerungen, Wortcollagen, Theater, Briefe und Biografien sind
        eingeschickt worden.
        
        Exemplarisch möchte ich auf die biografische Darstellung von Rero W.
        eingehen, die mich sehr beeindruckt hat. Der Autor plädiert dafür sich
        dem Thema »Schuld- zu stellen wie Eingangs bereits erwähnt. Er entwirft
        ein sehr offenes, kritisches Bild seiner persönlichen Begegnung mit
        dieser Thematik in verschiedenen Stationen seines Lebens. Zum Beispiel
        schildert er geradezu unverblümt und fast rücksichtslos das Bild seines
        brutalen, autoritären und die Familie tyrannisierenden Vaters. Es
        entsteht der Eindruck eines eingeschüchterten, ungeliebten, in vieler
        Hinsicht unterdrückten Jungen, der sich zudem als Folge dieser
        »Erziehung. fälschlich sogar für lebensbedrohende Krankheiten seiner
        vielgeliebten vierjährigen Schwester verantwortlich fühlt. Der Vater mag
        Waffen und bringt ihm den Umgang mit Gewehren bei, was ihm den Weg 'zu
        Abgründen ebnet. Nachdem verschiedene berufliche Anläufe misslingen und
        zudem sein unterentwickeltes Ich ihm empathische Beziehungen nicht
        ermöglicht, gerät er zunehmend in problematische Situationen, wird
        drogensüchtig und kriminell. Später begeht er dann sogar einen Mord.
        Sein mitmenschlicher Kontakt wird auch dadurch extrem vermindert, dass
        er im Gefängnis den Selbstmord eines engen Freundes und kurz darauf auch
        noch den Suizid eines weiteren Mitgefangenen erleben muss. All dies
        beschreibt er in konkreten, teils kargen Worten, staccatoartig ein
        ganzes Menschenleben und davon »16 Jahre sterbend« im Gefängnis (vgl.
        Autoren S. 150).
        
        Einen ausführlichen Raum nimmt die Darstellung einer extrem
        misslingenden, gleichgültigen sozialen und psychologischen Betreuung
        ein. Es zeichnet sich sehr konkret das Bild einer Häftlingsbehandlung
        ab, die dem gesetzlichen Ziel des Gefängnisses diametral widerspricht.
        Verschiedentlich führt sie sogar zu Überlegungen von Suizid. Erst über
        Jahre hinweg und durch die Auswechslung der Therapeuten/Psychologen und
        des Personals in der Venvaltung, bekommt er Boden unter den Füßen.
        Dennoch gibt es Stockungen in der Behandlung seines Falles, so dass er
        sich immer wieder an der Grenze zum Selbstmord bewegt. Ein kompliziertes
        Hin und Her, er wird immer wieder weitergereicht in der Hierarchie der
        zuständigen Behörden. Er verliert mehr und mehr die Hoffnung auf ein
        gutes Ende. Schließlich erhält er endlich die Möglichkeit zum offenen
        Vollzug. Er darf die Familie besuchen und schöpft neue Lebenshoffnung.
        
        Diese biografische Darstellung zeigt, wie schnell das Abrutschen durch
        mangelnde, unvermögende Erziehung und Gefährdung des Lebens,
        systematisch angelegt ist. Wer hat nun daran Schuld? Der Vater? Die
        Schule? Die Familie? Der Richter? Das Gefängnis? Der Psychologe? Der
        Häftling?
        
        Die Gefangenen schreiben, und in dem Akt des Schreibens verarbeiten sie
        auf eindrucksvolle "Weiseauch die Schuld, die sie auf sich geladen
        haben, und wie sie durch das Schreiben über die Schuld, sich von ihr
        befreien.
        
        Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang, wie sich Menschen aus
        dem juristischen Umfeld zur Frage von Schuld und Befreiung äußern.
        »Schuld« ist zum Beispiel ein Schwerpunktthema des ehemaligen
        Strafverteidigers und Schriftstellers Ferdinand von Schirach. Er erwähnt
        im Vorwort des Buches »Verbrechen- seinen Onkel, Vorsitzender Richter in
        einem Schwurgericht, der in seinem Abschiedsbrief vor dem Suizid
        folgende Zeile hinterlässt:
        »Die meisten Dinge sind kompliziert, und mit der Schuld ist es so
            eine Sache.«
        Ferdinand von Schirach selbst notiert:
        »Ich schreibe über Strafverfahren, ich habe in mehr als 700
            verteidigt. Menschen, Aber eigentlich über sein Scheitern, schreibe
            ich über den seine Schuld und seine Großartigkeit.«
        Schreibend über Straftäter und das Thema Schuld, sagt er einmal in einem
        Interview, kann er dem Menschen gerechter werden als in seinem
        ehemaligen Beruf.
        
        Aufsehen erregt hat auch Thomas Galli, Schirmherr des
        Ingeborg-Drewitz-Literaturpreises, der lange Jahre als Leiter in
        verschiedenen Gefängnissen deutschlandweit tätig war und dann seinen
        Beruf aufgegeben hat, weil er der Überzeugung ist, dass Gefängnisse
        niemandem nützen. Er beschäftigt sich u.a. ausgiebig mit der Behandlung
        der Schuldfrage im Strafvollzug. Dabei tritt er ein gegen die
        strafrechtliche Vergeltung. In zahlreichen Beispielen führt er aus, dass
        Strafe für eine Schuld die falsche Therapie eines fehlgeleiteten
        Gefängnisses ist.
        
        Diese Auffassung scheint mir stichhaltig. Von dem Aufruf, sich der
        eigenen Schuld zu stellen und sich ihr mit den Mitteln
        sprachlich-literarischer Form zu widmen, fühlten sich viele Gefangene
        (s.o.) angesprochen. Die Texte sind beindruckend und zeigen, wie die
        VerfasserInnen durch das Schreiben zu sich selbst gefunden haben. Eine
        Ichstärke geformt haben und bereit sind, Hoffnungen und Ziele
        aufzubauen, wozu sie allen Grund haben.
        »Aber ich kann wieder etwas gut machen. Denn wenn ich Leben
            zerstören kann, dann habe ich auch die Macht, - auch wenn Ihr das
            vielleicht nicht verstehen könnt -, Leben zu fördern, Menschen zu
            unterstützen, in Leid, in Not - und in Schuld.« (Frank Bieber-Kopf)
            »Ich sehe meine Schuld als per- sönliche Verantwortlichkeit, jedem
            anderen Menschen über alles Menschenmögliche zu unternehmen, zu
            'entschulden'.«
        (Christian »Bär« Templiner)
        
        Es gibt keine plausible, ernsthafte Begründung, warum die Autorinnen,
        die sich nachweislich schreibend befreit haben, noch im Gefängnis
        eingesperrt werden, zumal sie unter den Bedingungen des Strafvollzugs
        keine weitere positive Unterstützung zu erwarten haben. Im Gegenteil ist
        zu befürchten, dass sie ihre geglückte Selbstfindung und Befreiung im
        Laufe der weiteren Inhaftierung, verlieren. Sie würden weiterhin
        bestraft für etwas, das sie schreibend überwunden haben. Das Strafrecht
        würde ihnen nicht helfen, sondern schaden. Seine Wirkung wäre
        kontraproduktiv.
        »Strafrechtliche Vergeltung von Schuld schadet uns allen«
        (Thomas Galli, Weggesperrt, S.154)
        
        Das Strafrecht ist ein »Recht«, dass den wahren Sinn von Recht
        missbraucht. Zur Befreiung von »Schuld« führt keine »totale Institution«
        wie das Gefängnis, eher die Befreiung von dieser Institution. Es gilt
        nicht die Schuld zu bekämpfen, sondern das Strafrecht umzuwandeln.
        
        Was macht man also mit den Gefangenen, die sich »entgegen dem Knast«
        befreit haben und befähigt sind, Verantwortung zu übernehmen und in der
        Zukunft straffrei zu leben? Es macht keinen Sinn, dass sie weggesperrt
        sind, zumal sie sich von der Schuld mit therapeutischer Wirkung
        schreibend befreit haben. Es gibt keinen Grund, dass sie im Gefängnis
        festgehalten werden. Das Gefängnis als totale Institution würde
        allenfalls zu einer Zerstörung des Befreiungsprozesses führen. Folglich
        müssten die AutorInnen entlassen werden. Eine Entlassung würde
        allerdings zu einem Folgeproblem der überflüssigen strafrechtlichen
        Verurteilung führen. Thomas Galli stellt fest:
        »In vielen Fällen wirkt das Stigma als 'Ex-Knacki' noch stärker als
            das der Straftaten an sich... Das Ein- und Wegsperren vermittelt uns
            sehr eindringlich, dass es sich wohl um einen gefährlichen und bösen
            Menschen handelt, der zumindest für eine Zeit nicht mehr unter uns
            leben darf.«
        (a.a.O., S.155)
        
        Es mag absurd klingen, dass das Strafrecht und das Gefängnis das
        Hauptziel der Resozialisierung nicht erreichen. Im Gegenteil verhindern
        sie die erhoffte Resozialisierung und verletzen somit das oberste Gebot
        des Strafvollzugsgesetzes. Sieht man den auf diese Art und Weise
        angerichteten Schaden, den sie den Menschen zufügen, so verletzen sie
        zugleich das primäre Ziel des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist
        unantastbar«, und zwar eines jeden Menschen, auch der Gefangenen.
        
        Warum sitzen sie dann noch?