# Geleitwort aus dem Buch
              
            
            
              "Diese Arbeit spricht für sich. Sie bedarf nicht der Fürsprache.
              Es ist allerdings zu ihr zu sagen, daß sie eine Chance ist, die
              verspielt werden kann.
            
            
              Die Strafe des Freiheitsentzug ist (wenn sie es je war) kein
              vernünftiger Weg mehr in der Auseinandersetzung mit den Menschen,
              die einmal oder immer wieder nicht mit den Verabredungen zurecht
              kommen, die unser Zusammenleben leidlich regeln sollen.
            
            
              Die Gefängnisse in aller Welt sind überfüllt. Angesichts der
              Energie, mit der ständig neue Straftatbestände definiert und die
              vorhandenen mit immer höheren Strafmaßen bestückt werden (wir
              verfügen bereits über Umwelt- und Fußballverbrecher und jeder
              Zeitgenosse hat einen Tatbestand vor Augen, der nach seiner
              Überzeugung der generalpräventiven Verstärkung der Androhung
              bedarf), ist es nicht unsinnig davon zu sprechen, daß eines
              absehbaren Tages die eine Hälfte der Bevölkerung die andere
              einsperren wird.
            
            
              Die Gesellschaft wird nie darauf verzichten können, auf Verstöße
              gegen ihre Verabredungen zu reagieren. Daß sie noch immer nicht
              anders auf sie meint reagieren zu können als dadurch, daß sie den
              rechten Umgang mit der Freiheit durch Entzug der Freiheit lehrt,
              ist nachgerade ein Tatbestand schlimmster Art. Seit Jahrzehnten
              liegen die unheilbaren Mängel des Strafvollzugs durch
              Freiheitsentzug zu Tage, Wissenschaft und Praxis haben sie
              bloßgelegt - doch nichts geschieht.
            
            
              Wir gewähren weiterhin die Chance der Resozialisierung. Doch neun
              von zehn Straftätern sind nie einer Sozialisierung teilhaftig
              geworden: Man kann sie gar nicht an einen Platz zurückleiten, den
              sie leichtfertig oder böswillig verlassen haben. Es ist nicht
              möglich, ihnen durch Entzug der Freiheit den von ihnen angeblieh
              verschmähten Wert der Freiheit bewußt zu machen. Sie haben in
              Wahrheit nie die Freiheit gehabt, sich für einen Weg zu
              entscheiden. Sie sind nie frei zu sich selbst gewesen.
            
            
              Das Strafvollzugsgesetz - in dieser Arbeit werden seine Defekte,
              seine Unentschlossenheit und seine Widersprüche deutlich gemacht.
              Dieser Tage erinnerte eine Notiz, die Müller-Dietz immerhin in
              einer Fachzeitschrift unterbrachte, nachdrücklich (aber allseits
              ungehört) an sie: Er wies auf die Verschlechterungen hin, die das
              Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes der Bundesrepublik in den
              neuen Bundesländern für die Insassen der Strafvollzugsanstalten
              mit sich bringt ...
            
            
              Diese Arbeit ist eine Chance, denn sie gibt Einblick in die Welt
              der Ein- und Ausgesperrten. Sie läßt über die
              "Gefangenenzeitungen" die Menschen sichtbar und spürbar werden,
              die sich gegen das Elend zu definieren versuchen, das ihnen
              zugefügt wird. Viele von ihnen, wenn nicht gar die meisten, wären
              nicht in Konflikt mit unseren Spielregeln geraten (wir nennen sie
              Gesetze, als hätte sie Moses gestern vom Berg herab gebracht und
              noch dazu in Stein gehauen, doch sie kommen nicht von Gott, es ist
              nichts Numinoses an ihnen, sie sind von ärgster Relativität, nicht
              nur der Hochverrat ist eine Sache des Datums), wenn sie ihren
              Jammer anders als durch das hätten artikulieren können, was wir
              dann eine Straftat nennen.
            
            
              In den "Gefangenenzeitungen" kommen sie zu Wort, "damit ich mich
              wieder begreifen, fühlen kann", wie einer notiert. "Um der
              Verzweiflung Herr zu werden", schreiben sie, um sich "an mir
              selbst festzuhalten", weil da nichts anderes ist, woran sie Halt
              finden könnten.
            
            
              Diese Arbeit, wissenschaftlich fundiert und qualifiziert, ist eine
              Chance, zu erkennen, was wir zufügen. WU' werden leiden, solange
              wir leiden lassen. Und die Behauptung, daß wir nur leiden lassen,
              weil man uns Leid zugefügt hat, ist eine Ausflucht und keine
              Zuflucht: Es sind Gestörte, Verstörte, die uns stören; die uns
              antun, was ihnen angetan wurde; die uns zufügen, was man ihnen
              vorenthielt.
            
            
              Diese Arbeit ist ein hreiter Zugang zu der Erkenntnis, daß endlich
              ein neuer Weg gefunden und begangen werden muß, um Verstößen gegen
              die Spielregeln unseres Zusammenlebens unsere Mißbilligung
              mitzuteilen, einen besseren Weg als den Entzug der Freiheit. Einen
              ähnlichen Zugang wird es so bald nicht wieder geben. Wir sollten
              diese Chance nutzen. Hier erzählen die Wände, wie einmal in dieser
              Arbeit zitiert wird, vom leisen Weinen in der Nacht, vom Schreien
              im Schlaf, oder "von denen, die ganz still sind".
            
            
              Damit kein Mißverständnis aufkommt, damit sich nicht der oder
              jener vor dieser Arbeit versteckt: Es gibt auch Menschen, denen
              wir nach gegenwärtiger Erkenntnis nicht zur Freiheit unter uns
              helfen können, vor denen wir uns, die wir vor sich beschützen
              müssen. Doch auch und gerade mit ihnen kann man anders umgehen,
              als das heute geschieht: Man kann sie bewahren, statt sie zu
              verwahren."
              Gerhard Mauz